• vor 2 Jahren
Wenn Pfarrerin Susanne Jensen auf der Kanzel steht und predigt, dann wischt sie sich manchmal nachdenklich mit der Hand über den Kopf - und der ist kahl geschoren.

Wenn dabei noch der Ärmel ihres Talars ein wenig nach oben rutscht, wird auf ihrem Arm ein rot-blau-grünes Tattoo sichtbar. Ihre Gemeinde hat sich bereits an ihre Pfarrerin gewöhnt, die aus der Rolle fällt. Und Predigten hält, die in den Augen der Gemeindemitglieder besonders glaubwürdig sind. Denn Pfarrerin Jensen weiß ganz genau, wovon sie spricht, wenn sie über Themen wie Angst, Schmerz oder auch Hoffnung predigt.

In ihrer Kindheit ist sie jahrelang sexuell missbraucht worden - vom eigenen Vater. Ihr selbst wurde der Missbrauch bewusst, als sie zwölf war. Damals wurde sie in einem Park von einem Fremden vergewaltigt und dadurch ging ihr ein Licht auf: Das macht ja auch Papa mit mir!

Doch einen Ausweg gab es für die jugendliche Susanne nicht. Mit wem sollte sie reden? An die Polizei war nicht zu denken, weder die Mutter noch Lehrer oder Verwandte begriffen, was los war. Susanne wusch sich nicht mehr, trug abgerissene Klamotten, hatte keine Freundinnen, in der Schule blieb sie zweimal sitzen, versuchte mehrfach, sich umzubringen. Niemand ging diesen Signalen auf den Grund.

Nach und nach entdeckte Susanne Jensen den christlichen Glauben als Halt, schaffte mit Mühe das Abitur, studierte Theologie. Die Missbrauchsgeschichte hatte sie total verdrängt. "Sonst wäre ich wohl wahnsinnig geworden", sagt sie. Aber in der Endphase der Pfarrerausbildung im Jahr 2000 - ihr Vater war längst tot - brach alles wieder auf. In einem Flashback kamen die alten Bilder vom Missbrauch wieder hoch, sie kollabierte, musste monatelang in die Klinik.

Seitdem lebt sie auf Messers Schneide. Sie arbeitet als Pfarrerin, gibt Konfirmandenunterricht, predigt und macht Beerdigungen. Oft braucht sie Psychopharmaka gegen ihre Depressionen. Immer wieder brennt sie sich mit Zigarillos Male in die eigene Haut. Sie schert sich den Kopf, lässt sich Tattoos stechen und trägt ein Hundehalsband als Schmuck. Ihre Gemeinde und die Kirchenleitung waren lange irritiert von der Pfarrerin mit Glatze und Tattoos.

Im Sommer 2010 dann wagt Susanne Jensen ein Coming-out. In einer Predigt, auf der Kanzel erzählt sie offen vom Missbrauch in ihrer Kindheit. Dabei macht sie die Erfahrung, dass die Gemeinde auf ihrer Seite steht.

Jetzt fühlt sie sich frei, will nicht mehr schweigen. Denn sie ist überzeugt, diesen Missbrauch gibt es tausendfach, in ordentlichen, gutbürgerlichen Familien wie bei ihr selbst. Die Pfarrerin bebt vor Zorn, wenn sie klagt, dass die Täter viel zu oft als ehrenwerte Herrschaften durchgehen und viele Opfer an ihrem Schicksal zerbrechen.

Susanne Jensen macht eine Reise zurück an die Orte des Schreckens ihrer Kindheit. Sie ringt um Stabilität in ihrem Leben - auch wenn das bedeutet, sich mit all den alten Verletzungen noch einmal zu konfrontieren. Menschen hautnah begleitet sie bei ihrem Kampf um eine Zukunft, in

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