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Das neue Fantasy-Rollenspiel von Entwickler Obsidian Entertainment (The Outer Worlds, Grounded) lässt euch viele Freiheiten und sagt nur in einem Punkt Nein: Avowed hat keine Open World. Zumindest offiziell. Doch im Test stellt sich schnell heraus: Bei so einem tollen Leveldesign spielt es letztendlich keine Rolle, welcher Begriff dafür verwendet wird. Unser Tester Peter nimmt euch mit ins Land der Lebenden und zeigt euch, was Avowed ausmacht - und woran es noch ein bisschen arbeiten muss.
Transkript
00:00Ungefähr 400. So viele Truhen habe ich während des Tests von Avowed locker aufgemacht. Und was
00:10soll ich euch sagen, bei fast jeder davon hat es sich gelohnt sie aufzuspüren. Vielleicht
00:16nicht immer wegen ihres Inhalts, aber der Weg dorthin war stets ein Abenteuer.
00:20Für mich ist klar, Avowed ist Obsidian Entertainments bislang bestes 3D-Rollenspiel.
00:26Die Entwickler bezeichnen es selbst nicht als Open World. Aber in Wahrheit besteht die Fantasy-Welt
00:32von Avowed aus mehreren frei begehbaren Arealen. Da fühlt sich die Unterscheidung fast schon wie
00:38Wortklauberei an. Denn hier wird Erkundung so clever belohnt, wie in kaum einer echten Open
00:44World. Und das Beste, langweilige Nebenaktivitäten von der Stange sucht ihr dabei vergebens.
00:5650 Stunden könnt ihr in Avowed investieren. Locker. Es hat vier richtig große Gebiete und
01:03zwei kleinere. In allen überzeugt das Design. Optisch macht Avowed einiges her. Die Spielwelt
01:10punktet mit glaubwürdiger Architektur, hübschen Details und schlichter Natürlichkeit. Alles fließt
01:16geschickt ineinander über. Straßen, Höhlen, Felsklippen und Häuser passen organisch zueinander.
01:23Weil es weniger, aber dafür größere Gebiete gibt als beim Planetenspringen von The Outer Worlds,
01:29fühlt sich die Welt stimmiger und zusammenhängender an. Außerdem gibt es viel weniger Ladezeiten als
01:35bei Skyrim oder Fallout. Man sieht interessante Strukturen in der Ferne, die dazu einladen,
01:40immer noch einen Schritt zu machen. Nur noch hinter diese Ecke spähen, nur noch den Turm
01:46dahinten erklimmen, nur noch schnell… Wo war ich? Achja, Avowed schafft es sehr gut,
01:52einen Abseits der Story zu beschäftigen. Zumindest, wenn ihr euch darauf einlasst,
01:56ein paar Bildschirmanzeigen bewusst zu deaktivieren. Und Spaß am Klettern. Den
02:01solltet ihr mitbringen. Vor Release hatte das kaum jemand auf dem Schirm, aber Avowed setzt
02:07stark auf Parkurelemente. Ihr könnt fast überall hochklettern, sofern der nächste Vorsprung nicht
02:12zu hoch ist. Und meine Güte nutzt Obsidian diese Mechanik gut aus. Egal ob in der Wildnis oder in
02:19der Stadt, es gibt kaum Grenzen für eure Entdeckerlust. Ihr könnt mit Granaten geheime
02:24Gänge freilegen, alte Maschinen per Stromschlag aktivieren oder durch Magie unzugängliche
02:29Plattformen erreichen. Aber das Beste ist, dass wirklich an jeder entlegenen Stelle auch
02:34tatsächlich ein kleiner Schatz auf euch wartet, um euch für eure Exkursion zu belohnen. Das hat
02:40bei mir so einen Sog erzeugt, wie ich ihn nur selten in einer Open World erlebt habe.
02:45In seinen besten Momenten hat mich Avowed dabei an Gothic erinnert. Wie im Minental erledige ich
02:51erstmal alles abseits der Hauptquest. Ich durchsuche jedes Gebiet millimetergenau nach
02:57Schätzen. Wann immer ein schwaches Klimpern von der Nähe einer Truhe oder anderer Items kündet,
03:02merke ich auf. Wenn das für euch genauso spaßig klingt, wie es für mich im Test war,
03:08dann habe ich eine dringende Bitte. Schaltet den Kompass oder zumindest die dort angezeigten
03:13Symbole aus. So müsst ihr die Schätze nämlich selbst finden, statt sie nur Ubisoft-typisch auf
03:19der Karte abzufarmen. Es ist eigentlich eine Schweinerei, dass Obsidian diese Informationen
03:25standardmäßig aktiviert hat, denn ohne sie steigt der Spielspaß spürbar an. Avowed ist überhaupt
03:31ein Spiel, bei dem es sich lohnt, eine Weile in den Optionen herumzufummeln. Viele Interface-
03:37Erleichterungen lassen sich abschalten, das Ergebnis ist ein intensiveres Spielerlebnis.
03:41Die aufsteigenden Schadenszahlen braucht zum Beispiel niemand, glaubt mir. Das Sichtfeld lässt
03:47sich vergrößern, die Tasten frei belegen und es gibt auch einige mögliche Anpassungen für Menschen
03:52mit Einschränkungen. Bei der Grafik lässt sich ebenfalls viel einstellen, das ist mit einem PC
03:57der gehobenen Mittelklasse aber kaum nötig. Anders sieht es auf der Xbox aus, hier gab es
04:03auch im Performance-Modus Slowdowns. Noch schlimmer waren Bildfehler wie flimmernde
04:08Texturen und Haare. Auch ein paar kleinere Quest-Bugs konnten wir beobachten, insgesamt
04:13war das aber im Rahmen und Obsidian wurde auf die Probleme bereits hingewiesen. Meine Empfehlung ist,
04:18spielt Avowed auf dem PC. Übrigens, wer den Gamepass hat, kann auf beiden Plattformen relativ
04:25problemlos reinschnuppern. Also, was haben wir gelernt? Avowed bietet eine tolle Bewegungsfreiheit
04:31und motiviert zum Erkunden. Den Open-Teil hat das Spiel also drauf. Wo es hapert,
04:37ist die Sache mit der World. Denn wenn ihr die Maßstäbe einer Open World wie der von
04:42Red Dead Redemption 2 oder The Witcher 3 anlegt, fallen euch schnell viele Unzulänglichkeiten auf.
04:48Avowed ist keine Sandbox oder auch nur ansatzweise eine Welten-Simulation. Der
04:54Großteil der NPCs ist reine Kulisse ohne Dialoge, es gibt keine Zufallsevents und
05:00kaum Leben in der Welt. Im Vergleich mit den besten Open-World-Spielen wirkt Avowed statisch
05:05und teils gar unglaubwürdig. So könnt ihr etwa problemlos Häuser ausräumen und den Figuren ihre
05:11Besitztümer unter der Nase wegstehlen. Diebstähle werden nicht geahndet, weil alle Gegenstände nur
05:18auf eure gierigen Hände warten. Friendly Fire existiert auch nicht, NPCs und friedfertige Tiere
05:25könnt ihr schlicht nicht angreifen. Das muss man akzeptieren, um Avowed zu genießen. Oder
05:31man geht und spielt Kingdom Come Deliverance 2. Noch da? Dann weiter im Text. Avowed spielt ihr
05:38idealerweise aus der Ego-Perspektive. Es gibt zwar eine jederzeit aktivierbare Third-Person-Kamera,
05:43aber glaubt mir, die wollt ihr abseits der Aufnahme schicker Screenshots nicht benutzen.
05:49Aus der Ego-Perspektive visiert ihr besonders mit Maus und Tastatur präzise Gegner an und
05:55springt punktgenau durch die Gegend wie in Mirror's Edge. Schaut ihr eurem Charakter
05:59stattdessen über die Schulter, fühlt sich jede Bewegung schwammig an. Das ist in den Kämpfen
06:04fatal, denn die sind hektisch und erfordern in den höheren Schwierigkeitsgraden einiges
06:08an Übersicht. Auch könnt ihr beim Erkunden an Gegner geraten, die euch zu diesem Zeitpunkt
06:13überlegen sind, denn die Feinde leveln nicht automatisch mit. Ihr stoßt mal auf leicht
06:19aus den Latschen zu hauende Anfängerechsen und woanders auf zähe Supermonster. Noch so
06:25eine Gothic-Parallele. Optisch gibt's einen Tick zu wenig Abwechslung bei den Gegnertypen. Dafür
06:31tretet ihr oft gegen Support-, Tank- und Fernkämpferfiguren gleichzeitig an. So müsst
06:36ihr einigermaßen taktisch vorgehen. Bis zu zwei Begleiter helfen euch im Kampf,
06:40ihre und die Fähigkeiten des Helden setzt ihr am PC gezielt mit den Zifferntasten ein.
06:45Ansonsten gibt's noch ein Kreismenü mit Pausenfunktionen. Am Gamepad ist das Pflicht,
06:50aber es nimmt Tempo raus und ist umständlich zu bedienen. Das Ergebnis ist, dass ihr auf
06:55der Xbox wahrscheinlich deutlich seltener euren Begleitern Anweisungen gebt. Wegen
07:00der schwerfälligeren Gamepad-Steuerung habt ihr weniger Übersicht und Flexibilität als am PC.
07:05Das Skillsystem von Avowed ist komplett frei, es gibt keine Klassen. Auch Waffen
07:11lassen sich beliebig kombinieren. Es gibt Bögen, Sperre, Musketen, Kriegshammer und vieles mehr.
07:16Wer mag, darf sogar einen Zauberstab mit einem Schild kombinieren, eine Pistole mit einem Schwert
07:22oder zwei Dolche gleichzeitig führen. Das nenn ich mal Freiheit. Die Balance ist anfangs aber
07:27nicht ganz ausgegoren. Auf dem normalen Schwierigkeitsgrad haben Zauberer es anfangs
07:32deutlich leichter als Nahkämpfer. Erst mit mehr Fähigkeitspunkten und besseren Nahkampfwaffen
07:37wird es später sinnvoll sich mitten ins Getümmel zu stürzen. Toll ist dagegen,
07:42dass ihr jederzeit per Respec alles zurücksetzen könnt. Gegen eine kleine Gebühr. Das fördert die
07:48Experimentierfreude. Allerdings steht dem das Upgradesystem etwas entgegen. Erinnert ihr euch
07:54noch an die 400 Kisten? In denen stecken hauptsächlich Crafting-Materialien. Mit ihnen
08:00baut ihr Standardwaffen über Stunden zu mächtigen Knüppeln aus. Ihr konzentriert euch also auf eine
08:06Lieblingswaffe und buttert da reichlich Materialien rein. Das Gute ist, dass ihr oft je nach Item-Typ
08:13unterschiedliche Ressourcen braucht und es von ihnen so viele gibt. Ihr könnt also tatsächlich
08:17mit etwas Geduld ein ganzes Arsenal an unterschiedlichen Waffen und Rüstungen aufleveln.
08:23Weil der Loot oft nur aus Handwerksmaterialien besteht, freut man sich umso mehr über den
08:28Fund besonderer, einzigartiger Items. Wer gerne a la Diablo sein halbes Inventar alle paar Minuten
08:35austauschen möchte, ist bei Avowed fehl am Platz. Im Test hat mir das Tempo der Verbesserungen in
08:42jedem Fall sehr gut gefallen und dank Respec habe ich mich später vom Zauberstabnutzer zum
08:46Schwertkämpfer und Bogenschützen entwickelt. Hat auch Spaß gemacht.
08:50Was nun das vor Release viel diskutierte Treffer-Feedback angeht, kann ich teilweise
08:56Entwarnung geben. Zwar ist es tatsächlich so, dass ihr manchmal stur Lebensleisten kleinhackt,
09:02während der Feind relativ unbeeindruckt sein Repertoire an Angriffsanimationen abspult.
09:07Aber das ist vor allem ein Problem der ersten Spielstunden. Mächtigere Waffen und neue Skills
09:14erlauben es euch, Feinde zu Boden zu stoßen oder sie in ihren Aktionen zu unterbrechen.
09:19Auch fliegt die eigene Figur gerne mal durch die Luft, wenn ihr mit leichter Rüstung von
09:23einem schweren Schlag getroffen werdet. Das macht die Kämpfe aus der Ego-Perspektive
09:27intensiv, wenn auch nicht perfekt. Übrigens, dass euch das Spiel beim Zuschlagen ein bisschen
09:33an die Gegner heran beamt, lässt sich wie so vieles in den Optionen deaktivieren.
09:38Was haben wir bis hierher gelernt? Avowed ist ein zutiefst mechanisches Rollenspiel,
09:43das für gute Leistungen bei Erkunden, Kämpfen und Aufleveln Abstriche in anderen Bereichen macht.
09:49Etwa bei der Animation der Hände beim Rennen, also ich meine, ja, pff, ab, ja.
09:55Aber wie sieht es eigentlich mit klassischen Rollenspieltugenden wie Story und Dialogen aus?
10:00Die Geschichte von Avowed teilt sich in zwei Stränge. Zum einen sind da die politischen
10:06Verwicklungen eines neuen Kontinents, auf dem kürzlich ein fernes Imperium die Kontrolle
10:11übernommen hat. Zum anderen gibt es das eher philosophisch angehauchte Mysterium
10:16um Götter und körperlose Stimmen. Euer zu Beginn selbst erstellter Charakter
10:22ist ein Spezialagent des Kolonialreiches, der die Hintergründe einer mysteriösen
10:27Seuche erforschen soll. Zufällig handelt es sich bei ihm, ihr oder ihnen auch um ein Wesen
10:34mit einer besonderen Verbindung zur Welt von Avowed. Die Story lässt sich in gut 20 Stunden
10:40abschließen, wenn ihr Tempo macht. Normalerweise dauert es mit Erkundung und dem Erfüllen der
10:45vielen Nebenquests aber mindestens doppelt so lang. Auch 80 Stunden sind durchaus drin.
10:51Im Spielverlauf kommt es zu Reibereien mit verschiedenen Fraktionen, die alle sehr
10:55plastisch dargestellt sind und nachvollziehbar handeln. Selbst die klassisch Bösen haben gute
11:02Motive für ihre Taten. Entsprechend gliedern sich eure Entscheidungen im Spielverlauf dann
11:07auch in drei unterschiedliche Endsequenzen auf, je nachdem wen ihr unterstützt. Obsidian-typisch
11:13bekommt ihr angezeigt, was mit euren Begleitern und den Personen passiert, die ihr getroffen habt.
11:17Allerdings ist die Inszenierung sowohl des Finales als auch aller vorheriger dramatischer
11:23Momente sehr altmodisch. Wer sich gerne schicke Zwischensequenzen anschaut,
11:28ist in Avowed an der falschen Adresse. Die Dialoge sind gut geschrieben. Die
11:33ausschließlich englische Sprachausgabe erweckt die Figuren zum Leben, besonders eure Begleiter.
11:38Weniger wichtige NPCs fallen auch grafisch etwas ab, dafür setzt Avowed auf eine gesunde
11:44Mischung aus Witz und ernsten Themen. Die Autoren geben sich sichtlich Mühe,
11:53trotz der Fülle an Fachbegriffen eine zugängliche Geschichte und interessante
11:58Gespräche auf die Beine zu stellen. Das funktioniert auch mit den souverän
12:02übersetzten deutschen Texten gut, ein im Gespräch abrufbares Lexikon erklärt etwa
12:07unbekannte Wörter. Quests verfallen zwar öfter ins klassische Töte-Monster-Gruppe-X,
12:12Sammler-Item-Y, aber die interessanten Situationen und schicken Locations kaschieren das Geschickt.
12:19So richtige Highlights unter den Aufträgen musste ich dennoch mit der Lupe suchen.
12:25Oldschool-Rollenspieler dürften sich dafür über die häufige Anwendung von Attributen
12:30und dem anfangs ausgewählten Hintergrund eurer Spielfigur in den Dialogen freuen.
12:34Meist schaltet ihr dadurch nur eine etwas andere Antwort der NPCs frei, es gibt also
12:39keinen mechanischen Effekt. Aber ihr könnt damit gut eure Rolle ausdifferenzieren. Und
12:45zuweilen habt ihr so eben doch Einfluss auf den Verlauf einer Quest, die Belohnung oder
12:49das Schicksal von Figuren und Fraktionen. Das gab mir im Test immer wieder das Gefühl,
12:54wirklich meinen Charakter zu spielen und etwas zu erleben, das sich von den Erlebnissen anderer
12:59Personen unterscheidet. Eines ist sicher, ich habe in Avowed mehr Truhen geöffnet als in jedem
13:05anderen Spiel bisher. Und was soll ich sagen, ich habe es immer noch nicht satt. In einer Zeit,
13:11in der moderne Open-Worlds immer mehr Spieler anöden, darf sich Obsidian diesen Erfolg groß
13:17auf die Fahnen schreiben.

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