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80 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur sieht Kathrin Göring-Eckardt, ehemals Vizepräsidentin des Bundestages, weiter rechtsextremes "Gedankengift" in Deutschland. Die AfD würde versuchen, dieses überall in der Gesellschaft zu verbreiten. Die grüne Politikerin spricht sich für ein Verbotsverfahren gegen die AfD aus, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird.

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Transkript
00:00Am 8. Mai wird in Deutschland des Endes des Zweiten Weltkrieges der Millionenopfer und dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht.
00:12Ich spreche heute mit Katrin Göring-Eckardt über dieses Gedenken.
00:17Katrin Göring-Eckardt war Vizepräsidentin des Bundestages des Deutschen Parlaments, in dem wir hier heute auch sitzen.
00:22Sie ist Spitzenpolitikerin von Bündnis 90 Die Grünen und engagierte evangelische Christin.
00:29Frau Göring-Eckardt, Sie sind ungefähr 20 Jahre nach dem Kriegsende geboren.
00:34Was bedeutet der 8. Mai 1945 heute für Sie?
00:38Ich bin in der DDR aufgewachsen und es war immer klar, das ist der Tag der Befreiung.
00:44Und als ich Jugendliche war, sind zwei Dinge passiert.
00:47Erstens habe ich angefangen, mit anderen Gleichaltrigen gemeinsam in Frage zu stellen, wie die DDR mit Erinnerung umgeht.
00:55Und dieser Gedanke, in Westdeutschland waren die Bösen und in Ostdeutschland waren eigentlich die Opfer und die Guten, das konnte irgendwie nicht hinhauen.
01:04Und es gibt eine persönliche Geschichte, die auch etwa in dieses Alter fällt.
01:08Ich habe damals meinen Kampf gefunden zu Hause auf dem Schrank, gut eingepackt in das Neue Deutschland, die SED-Zeitung, was mein Vater aufgehoben hatte.
01:18Mein Vater ist 21 geboren, war in Stalingrad und war so jemand in Westdeutschland, würde man sagen, den die Alt-68er bekämpft haben.
01:28Und ich hatte viele Fragen an meinen Vater, die er nie wirklich beantwortet hat, sondern er hat so nach dem Motto agiert, es war ja nicht alles schlecht und Hitler hat die Autobahn gebaut.
01:39Und wenn jetzt etwas ältere Leute aus Westdeutschland das hören, werden sie sich erinnern, dass das eine ähnliche Argumentation war.
01:47Und mich hat das sehr geprägt. Ich hatte gerade das Tagebuch der Anne Frank gelesen, das war eines der Bücher, das in Ostdeutschland auch erlaubt war.
01:53Und mich hat das mit meinem Vater bis zu seinem Lebensende nicht mehr wieder zusammengebracht, sondern wir waren, ja wir haben miteinander geredet, aber wir haben nicht mehr wirklich miteinander diskutieren können.
02:06Und es gab eine große Mauer zwischen uns beiden. Insofern ist Erinnerungskultur aus diesem Persönlichen wie aus dem Politischen für mich etwas, was mich, ich würde sagen, ja, in die Politik gebracht hat.
02:20Wird der 8. Mai 1945 also unterschiedlich oder wurde ja unterschiedlich wahrgenommen in West- und Ostdeutschland?
02:29Die Ostdeutschen sind ja sozusagen von der einen Diktatur in die nächste Diktatur gekommen, auch wenn man die nicht richtig vergleichen kann natürlich.
02:37Wirkt sich das noch heute aus?
02:38Also man kann, das haben Sie zu Recht gesagt, die Schoah, die Diktatur der Nazis, nicht vergleichen mit der Diktatur der DDR, des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates.
02:50Diktatur heißt immer, es ist Willkür und man wusste nicht, wenn ich den Satz XY sage, finden die den vielleicht gut oder komme ich dafür ins Gefängnis?
02:58Und es sind ja auch viele derjenigen, die sich aufgelehnt haben, im Gefängnis gelandet oder wurden anders unterdrückt, konnten kein Abitur machen, nicht studieren, bestimmte Berufe nicht ergreifen.
03:10Unterschiedliche, sehr, sehr unterschiedliche Diktaturen, aber beides ja Diktaturen.
03:14Ich würde sagen, ja, man merkt diesen Unterschied bis heute.
03:19Das eine ist, es wird häufig auf Ostdeutschland geguckt, so nach dem Motto, da sind ja die Rechtsextremen.
03:25Und dabei wird nicht bedacht, wie das im Westteil der Bundesrepublik war und ist und wie dort Aufarbeitung zum Teil gar nicht stattgefunden hat,
03:34wie sowohl bei den Gerichten wie sonst auch im öffentlichen Dienst Leute, die auch in der nationalsozialistischen Diktatur in Amt und Würden waren, das weiterhin waren.
03:45Das war in der DDR nicht so, aber ich hatte vorhin schon gesagt, man tat irgendwie so, als ob da nur die Opfer waren, als ob man nichts aufzuarbeiten hätte.
03:53Und das hat natürlich dazu geführt, dass ein unterschwelliger Rechtsextremismus, ein unterschiedlicher, unterschwelliger Rassismus und Antisemitismus immer da war und eigentlich nicht darüber geredet worden ist.
04:04Ich kann mich erinnern, als Kind, als Jugendliche, unsere Schule war gegenüber vom jüdischen Friedhof, vom ehemaligen jüdischen Friedhof, muss man sagen.
04:12Und es gab da immer wieder Schmierereien und alles Mögliche. Es wurde darüber aber nie geredet und es wurde auch nicht darüber berichtet.
04:18Ich habe jedenfalls bis heute nichts gefunden, wo das geschrieben stand, obwohl es eigentlich alle wussten.
04:24Erst, ich glaube, im Jahr 2004 wurde zum ersten Mal dann ein solcher Vorfall thematisiert.
04:29Also dieses Nicht-Thematisieren in der DDR hat dazu geführt, dass eine Aufarbeitung nicht stattgefunden hat und dass dieses unterschwellige Dasein jetzt und später nach oben kam.
04:40Aber wenn wir in den Westen der Republik gucken, ich erinnere an, ja nur einfach an Mölln oder Solingen und Rostock-Lichtenhagen.
04:47Diese Anschläge sind ja von der Art her durchaus vergleichbar und es findet halt in beiden Teilen der Republik statt.
04:57Sie haben als Bundestagsvizepräsidentin mal gesagt, das Gedankengift ist 1945 eben nicht besiegt worden oder abgeschafft worden.
05:06Das gibt es immer noch. Was meinen Sie damit? Gibt es das heute auch noch im heutigen Deutschland?
05:11Ich würde sagen, ja und vielleicht auch wieder verstärkter oder wieder mit einem größeren Resonanzraum oder mit mehr auch Unterstützung von Medien, von sozialen Medien, von einer Partei, der AfD.
05:26Die versuchen, dieses Gedankengift überall zu implementieren. Und worum geht es vor allen Dingen?
05:31Es geht darum, dass wir als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes eine abgeschlossene Identität haben sollen.
05:36Dass wir nicht vielfältig sind, dass nicht normal ist, dass Menschen von woanders her auch Teil unseres Landes sein können.
05:42Es geht darum, dass wir immer wieder erleben müssen, dass Menschen abgewertet werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben oder eine andere Religion haben, manchmal auch nur eine andere Meinung haben.
05:54Und das muss uns sehr, sehr große Sorgen machen. Die AfD macht das sehr professionell, sehr hart.
05:59Und häufig eben auch entgegen all dem, was unser Rechtsstaat vorsieht und will, was unsere Verfassung vorsieht und will.
06:08Und deswegen ist auch zu Recht die Frage, ist diese Partei eigentlich verfassungsgemäß, ja oder nein, steht sie auf dem Boden unseres Grundgesetzes, sehr, sehr relevant.
06:16Sie haben die AfD, die Alternative für Deutschland angesprochen, die ja jetzt gerade erst vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremen eingestuft worden ist.
06:26Die Partei vertritt ja ein Geschichtsbild, wo sie sagt, den Deutschen wird Schuld eingeredet. Es gibt einen Schuldkult, ein revisionistisches Geschichtsbild eigentlich.
06:36Wie kann man dagegen angehen? Wie muss man Erinnerungskultur gestalten, um diese Auffassung zu widerlegen?
06:45Also ich glaube, erstmal müssen wir bei der Wahrheit bleiben. Und dieses Land, dieses Volk hat Schuld auf sich geladen.
06:50Und das geht auch nicht so nach dem Motto, wer später geboren ist, hat halt Glück gehabt, weil wir haben gerade darüber gesprochen, der Rassismus, der Antisemitismus ist eben noch da.
07:00Und das wirkt auch in der Schuld fort.
07:03Was kann man machen?
07:05Ich glaube, dass es gar nicht so einfach ist, sich im Alltag der Erinnerungskultur immer wieder zu vergegenwärtigen, dass das nicht etwas ist, was nur erinnert wird,
07:14sondern was Realität ist, täglich und heute. Erinnerungskultur ist etwas, was nicht nur erinnert und nicht nur die Vergangenheit betrachtet, sondern eben auch das Hier und Heute.
07:25Das eine ist, wir wissen, viele der Zeitzeugen leben längst nicht mehr. Ich bin froh, dass es einige noch gibt, die über die Zeit reden und daran erinnern.
07:34Aber es geht darum, das weiterzutragen. Es weiterzutragen und zu zeigen, wo überall hat sich der Nationalsozialismus eigentlich eingegraben mit seinen menschenverachtenden Positionen.
07:46Also wie war das im Alltag? Wie war das im Alltag in der Stadt? Wie war es in der Schule? Wie war es bei der Berufswahl? Wie war es in den Familien?
07:53Und das zu verstehen und das zu erkennen und das zu sehen, was das mit heute zu tun haben könnte und wie furchtbar es wäre, wenn wir wieder dahin kämen, das ist das eine.
08:04Das andere ist, wir haben Gedenkstätten in den KZ-Gedenkstätten. Das ist eine wirklich großartige Arbeit. Kleiner Nebensatz, wir brauchen immer auch genügend Geld dafür, dass die diese gute, auch pädagogische Arbeit machen können.
08:17Aber es geht eben nicht nur um KZ-Gedenkstätten, sondern es geht auch um das, wo ansonsten jüdisches Leben in Deutschland stattgefunden hat.
08:25Also nehmen wir die Aktion Stolpersteine, wo man ja wirklich drüber stolpert und sieht, ah, hier hat eine jüdische Familie gelebt.
08:32Was hat die eigentlich erlebt und wie ist sie gestorben? Was bedeutet das? Gibt es Nachwarn? Beschäftigen sich viele Jugendliche damit?
08:38Ich finde, das ist eine sehr nahbare Möglichkeit zu erinnern und die Gegenwart zu verstehen.
08:45Und ich bin wirklich fest überzeugt, das in Schulen zu implementieren, zu wissen, dass jede Geschichtslehrerin, jeder Geschichtslehrer dieses Thema auf die Tagesordnung setzen wird
08:56und es so hoffentlich macht, dass es auch emotional bei Kindern und Jugendlichen ankommt. Davon hängt es ja sehr viel ab.
09:03Wenn man diesen Komplex betrachtet, würde es etwas bringen, diese Partei, die AfD, zu verbieten? Das Gedankengut kann man ja nicht verbieten, oder?
09:11Man kann das Gedankengut und das Gedankengift nicht verbieten, das stimmt. Aber dass die Partei eine Partei ist, die davon lebt, dass sie die Gelder dieses Staates,
09:22der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zur Verfügung hat, obwohl sie eigentlich unser System abschaffen, beenden oder unterminieren wollen, das ist nicht richtig.
09:32Und ich bin fest überzeugt, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes uns diese Möglichkeit gegeben haben, die ja sehr schwierig zu erringen ist, damit wir sie nutzen, wenn es notwendig ist.
09:42Und wann ist es notwendig, wenn eine Partei als rechtsextrem eingestuft wird? Und das hat der Verfassungsschutz getan.
09:50Wann ist es notwendig, wenn wir Sorge haben müssen, dass demokratische Strukturen in unserem Land ganz bewusst angegriffen werden sollen und auch werden?
09:59Wir haben ja schon einige AfD-Politiker, die in Ämtern sind, wie beispielsweise ein Landrat.
10:04Und das sollten wir nicht kleinreden und auch nicht kleindenken. Und deswegen wird die Auseinandersetzung mit der AfD dringend und immer auf der politischen,
10:13auf der gesellschaftspolitischen, manchmal auf der persönlichen Ebene stattfinden müssen.
10:17Aber dass wir das Verbotsverfahren nicht anstrengen, und darum geht es ja nur als Politiker, ist ja unsere Aufgabe, es anzustrengen und nicht es durchzuführen,
10:24das hielte ich für der Sache nicht angemessen. Ich bin ja Teil eines Verfassungsorgans des Deutschen Bundestages.
10:31Und deswegen kann ich nicht, wenn mir ein Verfassungsschutz sagt, so ist übrigens die Lage, sagen, oh, passt gerade nicht, könnte komisch aussehen.
10:39Und aus genau diesem Grund finde ich, das müssen wir tun.
10:42Kommen wir nochmal zum 8. Mai 1945, zum Gedenken in diesem Jahr zurück.
10:46Es gibt eine Diskussion darüber, wer teilnehmen darf an dem Gedenken und wer nicht.
10:51Russische und belarussische Vertreter sind ausgeladen worden wegen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine.
10:57Halten Sie das für richtig? Denn man müsste ja eigentlich auch den Leistungen gedenken der Soldaten der sowjetischen Armee, die damals dabei waren.
11:07Kann man die eigentlich ausschließen?
11:08Also es geht ja darum, dass die Funktionäre dieser Staaten ausgeladen worden sind oder nicht eingeladen werden sollen.
11:15Ausgeladen wurde ja niemand, es ist nicht eingeladen worden. Das finde ich richtig.
11:19Und zwar nicht, weil es um die Erinnerung geht, sondern weil es um die Gegenwart geht und weil die belarussische Regierung,
11:26die russische Regierung versucht, dieses Gedenken zu missbrauchen.
11:29Und das haben wir gesehen, als der russische Botschafter mit dem Georgsband dann plötzlich bei einem solchen Gedenken gestanden hat.
11:37Und ich finde, das ist nicht akzeptabel.
11:39Gleichwohl ist es so, da waren ukrainische Soldaten, da waren russische Soldaten, da waren belarussische Soldaten.
11:44Es war ja die Union der Sowjetrepubliken. Es war ja nicht einfach eine sowjetische Rote Armee.
11:49Und deswegen ist es natürlich richtig, daran zu denken, dass diese Soldatinnen, nein, Soldaten sind das ja nur gewesen,
11:57dass diese Soldaten auch Teil der Befreiungsarmee gewesen sind, genauso wie die amerikanischen, französischen und britischen.
12:06Und wir sollten an sie denken. Und wenn es welche gibt, die mit dem heutigen Staat nichts zu tun haben, ist das auch richtig.
12:12Aber einen Missbrauch des Gedenkens zu verhindern, das finde ich vollkommen angemessen.
12:16Zum Schluss noch die Frage nach dem Schlussstrich. Es gibt eine neue Studie, die besagt, dass es eine relative Mehrheit bei den Befragten gibt,
12:25die sagen, jetzt ist mal nach 80 Jahren, ist auch gut mit Gedenken und man sollte das nicht weiter verfolgen,
12:31sondern einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen. Wie sehen Sie das? Ist das ein Ansatz, dem Sie was abgewinnen können?
12:39Also ich hätte ja gerne einen Schlussstrich unter die immer wiederkehrenden Schlussstrich-Debatten.
12:42Die haben wir immer wieder. Und es ist eine Mischung aus Ignoranz, aus Nichtsehnen der Gefahr, aus Nichtsehnen der Verantwortung,
12:51die wir immer noch gerade ins Heute hinein haben.
12:54Es ist übrigens auch nicht ein Ignorieren der Wunden, die geschlagen worden sind.
12:59Und häufig ist es ja so, dass es bei den Opfern die nächste und die übernächste und die überübernächste Generation ist,
13:06die spürt, dass diese Wunden immer noch da sind.
13:08Und diese Verantwortung haben wir für diese Menschen, aber wir haben sie auch für uns selber.
13:13Und wenn wir sehen, dass in unserem Land die Demokratie in Frage gestellt wird von einem nicht kleinen Teil derjenigen,
13:21die politisch aktiv sind, dann finde ich jede Schlussstrich-Debatte absolut falsch.
13:28Frau Göring-Eckardt, vielen Dank für das Gespräch.
13:31Vielen Dank.
13:31Vielen Dank.

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