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Vor 80 Jahren endete der 2. Weltkrieg. In einem Interview zum Jahrestag sagte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck der DW, nicht alle Mitglieder der rechtsextremen AfD seien Nazis, aber die Partei sei eine Bedrohung der liberalen Demokratie. Ein langwieriges Verbotsverfahren gegen die Partei würde aber mehr schaden als nutzen.

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Transkript
00:00Am 8. Mai wird in Deutschland des Kriegsendes gedacht, der vielen Millionen Opfer.
00:06Ein besonderer Tag, ein sehr facettenreicher Tag.
00:10Darüber spreche ich mit Joachim Gauck, ehemals Bundespräsident,
00:15also Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland von 2012 bis 2017.
00:20Herr Bundespräsident, vielen Dank, dass Sie heute Zeit für uns haben.
00:24Der 8. Mai, da waren Sie fünf Jahre alt, 1945.
00:30Was bedeutet dieser Tag heute für Sie?
00:33Naja, heute als abgeklärter älterer Mann im Krieg geboren,
00:38wird einem die Bedeutung des Begriffs Befreiung richtig nochmal bewusst.
00:44Ja, wenn man sich das ganze Ausmaß dieses staatsterroristischen, nationalsozialistischen Systems mal vor Augen führt,
00:53diese verheerende Wirkung, nicht nur, dass unsere Nachbarländer überfallen wurden
00:59und mit einem Vernichtungskrieg überzogen wurden, was den Osten betrifft,
01:04sondern auch dieser tiefe moralische Verfall durch diese unglaubliche Zahl von Morden an Menschen,
01:11die unsere Landsleute waren, die aus rassischen Gründen oder weil sie behindert waren, ermordet wurden.
01:18Das ist ja alles unglaublich.
01:20Und das Ende eines solchen Systems darf man als Befreiung bezeichnen, auch wenn ein Teil Deutschlands überhaupt nicht befreit wurde,
01:29sondern von einer Unfreiheit in die andere geriet.
01:3280 Jahre danach gibt es wieder eine neue Studie, die sagt, eine relative Mehrheit der Befragten sagt,
01:40wir müssen einen Schlussstrich ziehen, wir haben jetzt eigentlich genug erinnert, genug aufgearbeitet.
01:45Es muss auch mal sozusagen weitergehen.
01:50Wie finden Sie diese Schlussstrichdebatte? Ist die gerechtfertigt?
01:53Die ist mir vertraut. Seit ich politisch denke, kenne ich es.
01:57Also in der Nachkriegszeit wollten die Deutschen möglichst schnell wieder normal sein.
02:02Dann kam die nächste Generation im Westen Deutschlands, die dann nach Schuld und Verantwortung fragte
02:07und so etwas wie eine Welle kollektiver Scham auslöst.
02:12Im Osten hatten wir das nicht.
02:14Im Osten fühlte man sich auf der Seite der Sieger der Geschichte.
02:17Und da gab es diese innere Bereitschaft, Schuld anzuerkennen, jedenfalls nicht in dieser Breite.
02:24Und immer gab es das Gefühl von Menschen, wir wollen nicht über Schuld reden.
02:31Wir wollen nicht über Verantwortung, die wir hätten tragen können, aber es nicht gemacht haben, darüber nicht reden.
02:37Das tut weh.
02:38Aber irgendwann hat Deutschland West begriffen, das bringt uns nichts.
02:45Das verändert uns nicht in dem Sinne, wie wir uns verändern wollen in Richtung Demokratie, wenn wir über Schuld schweigen.
02:51Und dann gab es vielleicht so etwas wie eine gelegentliche Überdosierung mit Schuld.
02:58Insofern, weil viele progressiv denkende Menschen, die der Wahrheit Raum geben wollten,
03:05vielleicht eine kommende Generation, die gar nicht mehr schuldbeladen ist, praktisch mit Schuld infiziert haben.
03:12Und dann entsteht in einem Teil der Bevölkerung dieses Gefühl, nur ist man auch genug.
03:17Weil aus, sagen wir mal, pädagogischem Übereifer vielleicht in einigen Bereichen dieses Thema der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime überdosiert war.
03:28Und daher war so in einem Teil der Unpolitischen so eine gewisse Abwehrhaltung spürbar.
03:35Das hat sich kulturell im Westen nicht durchgesetzt, sondern diese Bereitschaft, die Wahrheit, Wahrheit sein zu lassen und auch die Schuld, Schuld sein zu lassen, ist kulturell prägend geblieben.
03:45Diese Entwicklung ist aber anders im Osten gewesen, sodass im Osten eine Verdrängungsstrategie mehr beheimatet ist als im Westen.
03:56Und nach wie vor, wir werden das immer erleben, das ist auch kein deutsches Phänomen, Erinnerung an vergangene Schuld ist ein schmerzhafter Prozess.
04:04Und wenn du diesen Prozess des Schmerzes scheust, wenn du dich sogar der Trauer entziehst, wo sie angesagt ist, dann musst du verdrängen.
04:20Und für einige Leute ist das das angesagte Modell.
04:24Naja, ich habe mich lange damit beschäftigt und habe lange eine Bürgergesellschaft geleitet, die heißt Gegenvergessen für Demokratie.
04:35Und deshalb kann ich mit Strategien des Vergessens generell nichts anfangen.
04:39Wer Leid und Schuld einer vergangenen Epoche nicht aufarbeitet, tut zu wenig für die Opfer und schont die einst Mächtigen.
04:48Und das ist also auch der politische Defekt, der entsteht, wenn man die Wahrheit nicht erkennen will und die Wahrheit meidet.
04:57Gibt es im Bundestag die größte Oppositionspartei, die Alternative für Deutschland,
05:02die eine ganz andere Auffassung hat von Gedenken und auch von der Frage, wie man mit der deutschen Schuld umgehen kann,
05:09eher ein revisionistisches Geschichtsbild propagiert?
05:13Wenn diese Partei wächst, ist da irgendwas schiefgelaufen bei der Aufarbeitung, bei der Erinnerungskultur oder warum ist, wie ist das zu erklären?
05:21Nein, ich habe vorhin davon gesprochen, dass in bestimmten Phasen oder für bestimmte Gruppen,
05:26das betrifft mehr den Westen, das Thema vielleicht überpräsent war.
05:30Ich selber sehe das nicht so, aber ich weiß, dass manche das so empfunden haben.
05:35Und wir haben mit der AfD eine nationalistisch geprägte politische Gruppierung,
05:42für die innere Einkehr und Selbstkritik irgendwie nicht passt.
05:49Also das finden die als Nestbeschmutzung.
05:51Das kennen wir Älteren.
05:53Diejenigen, die damals entweder die Wehrmacht kritisierten oder die deutschen Führungseliten galten ja lange Zeit als Nestbeschmutzer.
06:04Schauen Sie, im Alten Westen hat noch Anfang der 50er Jahre eine Mehrheit der Bevölkerung gedacht
06:10und empfunden, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Sache gewesen, nur eben schlecht gemacht.
06:16Und daran sehen wir, dass sich Mentalitäten sehr langsam ändern.
06:20Und gerade hier im Osten, wo die AfD ihre großen Mehrheiten hat, ist so ein gewisses altdeutsch-nationales Daseinsgefühl weiter verbreitet,
06:32als in dem Westen, der durch die kulturellen Wandlungsprozesse eine andere Einstellung gewonnen hat, auch zu Selbstkritik.
06:41Wir könnten eine Formel bilden.
06:43Je entwickelter die Zivilgesellschaft ist, desto größer ist die Bereitschaft, selbstkritisch die eigene Vergangenheit zu hinterfragen.
06:53Und wenn die Zivilgesellschaft weniger stark ist, dann schützt man sich gerne durch nationale Stereotype.
07:00Dann gilt immer, right or wrong, my country.
07:03Das heißt, dann wäre Selbstkritik irgendwie unpatriotisch.
07:07Während aufgeklärte Geister diesen Spruch, right or wrong, my country, beziehen, auf die Länder und Gesellschaften, in denen das Recht herrscht.
07:16Und man kann nicht stolz sein auf eine Nation, die das Recht gebrochen hat und das Unrecht zum Prinzip erhoben hat.
07:23Würde es helfen, Ihrer Einsicht nach, eine Partei wie die AfD, die ja vom Verfassungsschutz jetzt als gesichert rechtsextrem angesehen wird, zu verbieten?
07:34Weil dieses Gedankengut, was dahinter steckt, das kann man ja nicht verbieten, das bleibt ja.
07:38Nein, ich bin seit längerer Zeit ein Gegner dieser Auffassung, dass wir den Schaden beheben könnten, den wir politisch haben mit der AfD, durch ein Verbot.
07:48Ich glaube, dass die Solidarisierungseffekte dann größer wären als der Gewinn, den die demokratische Mitte hat.
07:58Und deshalb rate ich ab, es gibt diverse Unwegsamkeiten, die debattiert worden sind von Verfassungsjuristen.
08:06Es wäre ein langwieriger Prozess, wenn wir jetzt eintreten würden in ein Verbotsverfahren,
08:12der die nächsten Jahre überhaupt nichts ändern würde an der politischen Wirklichkeit.
08:16Wir wären dann in einer Zeit des Abwartens, ob Karlsruhe gegen die Partei entscheidet.
08:23Und ich halte das für hochproblematisch.
08:26Zumal sich in dieser Partei eben nicht nur alte Nazis oder Nationalisten bewegen,
08:32sondern auch Menschen, die strukturkonservativ geprägt sind
08:37und bei den Parteien der Mitte nicht genügend Anklang und Unterstützung sehen,
08:43die ihre Ängste dort nicht gut aufgehoben sehen.
08:45Das heißt, es ist ein Sammelbecken von unterschiedlich Unzufriedenen.
08:50Dazu gehören eben Nationalisten, altdeutscher Couleur und richtige Nazitypen,
08:56die man am liebsten im Knast sehen würde.
08:58Also dieses Becken ist es.
08:59Aber wie überall in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten,
09:05ist bei den Hardcore-Rechten auch eine große Gruppe derer in der Wählerschaft vorhanden,
09:14die einfach mit der offenen Gesellschaft hadern,
09:18die den so sehr umfassenden Wandel mit Angst begleiten.
09:24Und wenn auf diese Angst vor dem umfassenden Wandel keine richtigen Antworten kommen,
09:28wenn zum Beispiel in der Migrationsfrage nicht entschieden gehandelt wird von den Regierenden,
09:34dann gibt es diese Drift nach rechts außen.
09:37Und deshalb sollten wir uns dafür hüten, die Partei einfach als eine Nazi-Partei zu bezeichnen,
09:43dass es gibt Nazis in ihr, aber in ihrem Wesenskern ist sie eine Bedrohung der liberalen, offenen Gesellschaft.
09:51Und die, die die liberale, offene Gesellschaft bedrohen, das müssen keine Nazis sein.
09:57Das können auch verstockte Rechtsaußenleute sein oder einfach Nationalisten,
10:02die es nicht ertragen, dass es neben ihnen auch andere Menschen gibt,
10:07zugewanderte Menschen gibt, die für diese Gesellschaft außerordentlich wertvoll und nützlich sind.
10:13Das Erinnern an das Kriegsende und all die Dinge, die damit verbunden sind.
10:17Ist das auch, sagen wir mal, etwas, was man machen muss, um demokratische Werte zu unterfüttern,
10:24zu sagen, das ist der Unterschied, wir müssen an die Vergangenheit denken, um die Zukunft gestalten zu können?
10:32Wenn Sie mal große Regime anschauen, wie etwa Russland oder auch die Volksrepublik China,
10:40dann ist dieser Ansatz einer offensiven Selbstkritik der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft.
10:47Völlig systemfremd. Das können die nicht gebrauchen.
10:52Und deshalb ist es ein Zeichen von lebendiger Demokratie, wenn eine Gesellschaft und ein Staat fähig ist zur Selbstkritik.
11:00Unser Staat zeigt das durch Lehrprogramme, Symbole, Denkmäler und Geld,
11:07das man bereitstellt für Aufarbeitungsstrategien staatlicherseits
11:11und indem man Bürger aus der Zivilgesellschaft unterstützt, in diesem Sinne zu arbeiten und aufzuklären.
11:19Und das gehört praktisch zu unserer DNA, zu unserer deutschen DNA.
11:25Diese Fähigkeit, ein anderes Deutschland mit außerordentlicher und grundsätzlicher Kritik zu betrachten.
11:33Was zu kurz gekommen ist bei diesem Bemühen und bei diesen Aktivitäten ist,
11:40dass man die Großartigkeit und den Erfolg der deutschen Demokratie nach dem Krieg unzureichend gewürdigt hat.
11:49Wir haben vielfach in den Debatten, gerade der aufgeklärten Menschen, haben wir dieses Gefühl,
11:57ja, Auschwitz gehört eben zu Deutschland.
12:01Und wenn du daneben nicht die Kraft der Generationen setzt, die es verstanden haben,
12:06nach diesem überaus tiefen Fall eine so rechtssichere, glaubwürdige und soziale Demokratie zu schaffen,
12:13und wenn du daraus keine Freude entwickelst und keine Dankbarkeit und keinen Stolz,
12:18dann ist da ein Defizit, ein existenzielles Defizit,
12:22das den Leuten manchmal schwer macht, an sich und ihre eigenen Möglichkeiten zu glauben.
12:28Ich habe meine Rolle als Bundespräsident daran gesehen, die Deutschen daran zu erinnern,
12:33dass sie nicht nur zuständig sind für das größte Scheitern dieser Nation,
12:37sondern auch für den größten und nachhaltigsten Erfolg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaat.
12:42Und ich wünschte mir sehr, dass neben unserer Bereitschaft niemals zu vergessen,
12:49was Deutsche angerichtet haben, das Wissen steht, wir sind zu anderem fähig.
12:54Wir sind eine Heimat des Rechtes geworden und ein Land, in dem unendlich viele Menschen wohnen wollen,
12:59die keine Deutschen sind, weil dieses Land so rechtstreu geworden ist, wie es jetzt ist.
13:05Zum Erinnern gehört auch, sich an diejenigen zu erinnern, die damals diese Leistungen der Befreiung erbracht haben.
13:13Bei der Gedenkfeier im Deutschen Bundestag sind Vertreter aus Russland und Belarus nicht erwünscht,
13:19wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
13:23Halten Sie das für gerechtfertigt, dass man die Leistungen der ehemaligen sowjetischen Soldaten nicht irgendwie berücksichtigt?
13:31Doch, man berücksichtigt sich ja, indem man Ukrainer und andere Mitglieder der Sowjetunion nicht ausschließt.
13:37Die ukrainischen Menschen haben prozentual mehr Opfer gebracht als die russischen Menschen der Sowjetunion.
13:47Und deshalb schließen wir die sowjetischen Sieger nicht aus, sondern wir schließen jene aus,
13:54die die Prinzipien des Rechts und der Souveränität der Staaten missachten
13:59und mit einem neuen Angriffskrieg praktisch in die Fußspuren eines anderen, eines deutschen Aggressors treten.
14:06Auch dieser meinte ja, wir müssten einen Verteidigungskrieg führen
14:10und hat mit Lügen die Deutschen dazu verführt, am 1. September 1939 über unser Nachbarland Polen herzufallen.
14:17Und dieser Angriffskrieg der Russen ähnelt diesem Schritt von Adolf Hitler auf eine fatale Weise,
14:26weil es ein unprovozierter Angriff auf eine freie Nation ist, ausgestattet und gedeckt von Lügen der russischen Staatsführung
14:37über einen angeblichen Faschismus, der dort herrsche.
14:41Und deshalb kann ich die Entscheidung des deutschen Parlaments verstehen,
14:46die Vertreter der Repräsentanten des Angriffskrieges nicht bei dieser Feierstunde sehen zu wollen.
14:53Herr Bundespräsident, Herr Gauck, vielen Dank für das Gespräch.

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